Bei einem Jungen erwacht der Wunsch, Fußballspielen zu lernen, wenn er ein schönes Fußballspiel sieht. Wenn wir ihm dann erklären, hierzu sei es nötig, die Regeln zu lernen und zu wissen, was eine Abseitsfalle ist, wird er großes Interesse daran haben, diese kennen zu lernen und zu verstehen. Hauptsache, er kann bald mitspielen. Welcher Junge aber würde sich für die Regeln begeistern, ohne beim Fußball zugeschaut zu haben? Lebensnah und im sportlichen Geist angenommen, empfinden Kinder Regeln und Vorschriften durchaus als Wegweiser zum Glück. Im wahren Leben sind Normen also keineswegs die „Spielverderber“. Normen helfen, richtig zu leben.
von Maria Elisabeth Schmidt
Diese Einsicht weist den natürlichen Weg, Kindern Werte und Kultur weiterzugeben. Die erste Vermittlung geschieht dadurch, dass das Kind in eine Familie hinein geboren wird, die ihre eigene Kultur bereits lebt. Noch ehe die Vermittlung durch Belehrung mit Worten geschieht, nimmt der kleine Mensch unbewusst die Kultur seiner Umgebung in sich auf. Die Gewohnheiten, die regelmäßig wiederkehrenden Abläufe des Tages, der Woche und des Jahres prägen bald auch das junge Leben. Auch wir Erwachsene werden in unserem Verhalten noch mehr durch Eingewöhnung und Vorbild geprägt als durch lange Reden.
Um wie viel mehr nehmen Kinder das erlebte, weil gelebte Leben der Umgebung auf. Wir wissen heute, dass diese Vermittlung bereits im Mutterleib beginnt. Es gibt bereits Musik-CD’s im Handel, die mit Werbesprüchen angepriesen werden wie: „Musik im Bauch: Aus Liebe zum Leben und zur Kultur – aus Liebe zur Mutter und ihrem ungeborenen Kind“.
Erst später irgendwann tritt dann das gesprochene Wort hinzu. Es antwortet auf kindliche Fragen und erklärt, warum „man“ dieses tut und jenes lässt. Langsam beginnt die bewusste Weitergabe oder Bildung. Wir haben es zwar längst gewusst, aber nun belegt es auch die neueste Forschung: Babys und Kleinkinder sind für ihre gesunde Entwicklung auf individuelle liebevolle und verlässliche Zuwendung angewiesen. Ihr Fehlen führt zu Stress. Erhöhte Stresshormone beeinträchtigen die Entwicklung des Gehirns, das im frühen Alter sehr schnell wächst.
Zahlreiche Studien der Hirnforschung belegen, dass Kinder am besten lernen, wenn sie als ganze Menschen gefördert werden, mit all ihren Sinnen und Gefühlen, und wenn sie die Welt mit Herz, Hand und Verstand begreifen lernen. Ganzheitliche Herzensformung beschenkt die Kinder mit emotionaler Intelligenz und echter Sozialkompetenz, und hilft ihnen, Empathie zu entwickeln. Drei Schlüsselqualifikationen, die eine hervorragende Voraussetzung für ein stabiles, kultiviertes und gelingendes Leben bieten.
Das Kind nimmt erst einmal unbesehen und in vollem Vertrauen alles auf, was es hört und sieht, und übernimmt das meiste auch. Als vor Jahren mein Bruder mir einmal scherzend vorhielt, was ich da sagte, sei doch wohl gelogen, empörte sich die kleine Nichte in der Nähe: „Maria lügt nicht!“. Auf die verdutzte Frage meines Bruders, woher sie das denn wüsste, kam prompt die Antwort: „Lügner haben kurze Beine!“ Ich bin aber 1,75 m groß. Sie irrte zwar, doch zeigt die Episode, wie Kinder übernehmen, was sie hören, sehen oder sonst erleben.
Eine Freundin aus dem Kindergarten, die auf dem Bauernhof Entenfedern aufgelesen hatte, steckte sie im Garten in die Erde – sorgfältig und der Reihe nach. Sie hatte manchmal zugeschaut beim Einpflanzen von Blumensetzlingen. Nun nutzte die Erfahrung für ihre neue Kunst der Entenzucht. Bildung verlangt, das darf man daraus schließen, mehr als mündliche Belehrung.
Wir Erwachsene tragen deshalb in unserem gesamten Verhalten stets Verantwortung für das Maß und die Qualität der Formung des uns anvertrauten kleinen Menschen, der sich voll Vertrauen und mit großer Freude und Begierde auf alles Neue und Fremde stürzt. Nichts ist sicher vor dem Kleinen, sobald er es erreichen kann. Je größer die Geborgenheit, in der er aufwächst, so belehrt uns die Psychologie, um so ausgeprägter und mutiger wird seine Neu- und Wissensgier, weiß er doch, wo er Zuflucht findet bei Gefahr, Nichterfolg oder Unsicherheit. Wie aber schon zur Aufsichtspflicht ein stets ein wachendes Auge auf beides gehört, auf das frühe Lernen-Lassen und das Unheil-Verhüten, so bedarf es bei der späteren geistigen Bildung nicht minderer Aufmerksamkeit.
Die körperlichen Gefährdungen werden von den Eltern schnell erkannt und aufgefangen. Dagegen erweist sich die Aufmerksamkeit gegenüber geistigen Schadensquellen wesentlich schwieriger und wird leider allzu oft vernachlässigt. Eltern, die viel Geld in die Einbruchsicherung ihrer Wohnung stecken, aber ihren Kindern einen Fernseher oder PC mit Internetzugang in ihr Zimmer stellen, laden sie ein, unbeobachtet Sendungen anzuschauen und Internetseiten anzusurfen, die ihnen durchaus schaden können, die in ihnen die geistigen Werte zerstören oder – um im Bild zu bleiben – sie ihnen „stehlen“. Kinder sind meist neugierig. Das ist, wie wir gesehen haben, gut so. Deshalb nehmen sie eben zunächst einmal alles unbesehen in sich auf. Und vieles übernehmen sie dann auch.
Was für eine Entdeckungsreise – ohne Pauken und Trompeten – bietet dagegen das Familienleben: Das Miteinander, die Achtung vor dem anderen, die Aufmerksamkeit zumal dem Schwächeren gegenüber, all die Zuwendung und Hilfsbereitschaft, die letzten Endes der erfahrenen Liebe entspringen, die geistigen Anregungen, die den Lerneifer des Kindes anspornen.
Diese Schritte zur „Bildung des Geistes“ erfolgen allerdings nicht so, wie man die Spülmaschine anstellt. In jeder Familie herrscht ein Geist – herrschen heute leider oft auch mehrere Geister. Und dieser Geist findet in jedem Kind spontanen Niederschlag – noch unbewusst. Wenn das Einüben von Hilfsbereitschaft, Achtung vor dem anderen, Nachsinnen über Lösungen ohne die Hilfe anderer, Achtung vor dem Leben und der Schöpfung nicht in einer Gemeinschaft „mitwächst“, in deren Alltag alles das ganz selbstverständlich ist, muss es später mühsam anerzogen werden. Hier dürfte es noch manchen Aufklärungsbedarf für junge Eltern geben, denen in ihrer eigenen Erziehung oft die Vorbilder fehlten.
Lebendiger Anschauungsunterricht über die Wirkung von Vorbildern: Bei der Goldhochzeit meiner Eltern tummelten sich unter den Verwandten, Freunden und Nachbarn acht Kinder, zwanzig Enkel, vier Großenkel und die Schwiegerkinder. Es kellnerten die heranwachsenden Enkel. Bald forderten an der Theke die acht- bis zwölfjährigen Enkel ebenfalls ein Tablett. Das Getränkeangebot stieg gewaltig. Plötzlich erscheinen am Tresen die Urenkel, Zwillinge, dreieinhalb Jahre, weißes Hemd, schwarze Fliege: „Auch Tablett“. Darauf tragen sie hochkonzentriert und stolz ein Glas Wasser zum nächsten Gast. Niemand hatte irgendwann einen Vortrag über Catering-Service gehalten.
Die Familie bietet auch die ersten Berührungspunkte mit der Religion. Von Natur aus ist der Mensch bekanntlich religiös. Menschen ohne Religion sind eine Erfindung der Neuzeit. Sie hat die Menschen geistig ärmer macht. Kinder leben in den ersten Jahren in der Regel glücklich, sogar begeistert mit der Religion, zumal wenn sie zu Hause von einem fürsorglichen und barmherzigen Gott erfahren. Für Kinder ist es ein unerschöpflicher Reichtum, mit einem liebenden Gott zu leben. Das Mystische und Unerklärbare ergreifen sie mit allen Sinnen über Bilder, die sie mit reicher Phantasie ausmalen. Die Erinnerung an das religiöse Leben wird ein Kind sein Leben lang nicht vergessen – auch nicht während der Pubertät.
Kommt einige Wochen nach seiner Einschulung mein Neffe aufgewühlt nach Hause und berichtet den Eltern, er habe einen Klassenkameraden, der gar nicht an Gott glaube! Dieser habe zu ihm gesagt: „Was, du glaubst noch an Gott?“ Und er, völlig entsetzt, habe geantwortet: „Wie, du nicht? – Du Armer!“. Der Klassenkamerad war danach ganz betroffen. Und mein Neffe wollte mit den Eltern für ihn beten, damit er Gott doch kennen lernen möge.
Je aufrichtiger Kindern der Glaube vorgelebt wird – und das gilt auch für die Kultur –, desto fester werden sie in ihren Überzeugungen. Womöglich werden sie einmal anfangen, alles zu hinterfragen. Eine laschere oder indifferente Erziehung in Glaubensfragen hätte gewiss meinen Neffen zu dem Betroffenen gemacht, der zu Hause nachgefragt hätte, ob es Gott wirklich gäbe. Irgendwie muss ihm auf kindliche Weise klar gewesen sein: Christen sind zwar nicht besser, aber sie sind besser dran, denn ihr Gott ist besser. Und wünschte deshalb dem Kameraden auch das Geschenk des Glaubens.
So real die Verantwortung von Eltern ist, für passenden Wohnraum, Kleidung und Nahrung zu sorgen, so herausgefordert sind sie auch, das „Wertenest“ zu bauen, in dem das Kind nun heimisch werden soll. Die geistige Heimat für ihre Kinder zu gestalten, damit können werdende Eltern kaum früh genug beginnen,
Friedlicher und respektvoller Umgang miteinander wird in der Gesellschaft allenthalben gefordert. Real wird er wohl nur, wo er von innen getragen und vorgelebt wird. Darum werden Eltern und Erzieher, auch wenn er sie einiges „kostet“, sich Zeit für die ihnen anvertrauten Kinder nehmen, sie respektieren und als die Zukunft der Gesellschaft wertschätzen. Es lohnt sich, ein Kind einmal in Ruhe zu betrachten, wie es selbstvergessen isst, trinkt, spielt, Schulaufgaben macht oder schläft. Diese Zeit wird nie „verloren“ sein! Und auch das sei an dieser Stelle angemerkt: Es lohnt sich, für die Kinder Räume, genauer und im Wortsinne Spielräume und Orte zu schaffen für unverzweckte Zeit, Räume, in denen die Kinder ganz zur Ruhe kommen und wo sie zweckfrei Spielen können. Denn das sind günstige Bedingungen für Reifung! Wie bedeutsam und unverzichtbar ist das Spiel für die Entwicklung eines Kindes! Wie wir aus den Neurowissenschaften wissen, werden beim Spielen* die Problemlösungsnetzwerke im Gehirn gebildet. Hüten wir uns also davor, Kindern gerade diese Räume vorzuenthalten!
* hier ist echtes Spiel gemeint, Spiel, das der wahren Definition von Spiel genügt.
Wir mögen hochtrabend von allerhand „Werten“ reden, letztlich geht es um die Liebe, aus der, mit Vernunft gepaart, sich alles andere ergibt. Aus Liebe zur Wahrheit folgt die Wahrhaftigkeit. Hilfsbereitschaft und Dienst am Nächsten verlangt noch den geschulten Blick dafür, wer je mein Nächster ist. Warum zögern, mein Kind zu einem Krankenbesuch mitzunehmen und mit ihm die Blumen hierfür zu pflücken oder zu kaufen? Kinder tun das gern; der Sinn erhellt sich wie von selbst.
Keine Ausrede: Grundlage für eine gelungene Weitergabe von Werten und Kultur ist gute Herzensbildung. Ein Herz bilden kann ich aber nur in dem Maße, in dem ich dieses Herz gewonnen habe, mit anderen Worten, in dem Maße, indem mir ein Kind (oder auch ein Erwachsener) vertraut und sein Herz öffnet. Hüten und behüten wir darum die Herzen der uns anvertrauten Kinder sehr sorgfältig, nähren und stärken wir sie und schützen wir sie vor Verletzungen auch und in besonderem Maße durch uns selbst. Dann können Kinder ihre Herzen weich halten und werden ein sehendes und mitfühlendes Herz entwickeln können.
In dem Maße, in dem die Herzensbildung den Kindern authentisch vorgelebt wird, verfehlen die Tugenden, die daraus folgen, ihre anziehende Wirkung auf die reinen Herzen der Kleinen nicht. Erleben sie Wahrheitsliebe, Dankbarkeit, Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft, etc. im Alltag, braucht die Weitergabe von Werte und Kultur an die nächste Generation nicht länger unsere Sorge zu sein.